Oberflächentechnik und Pharmaverfahrenstechnik – woran arbeitet das Fraunhofer IST gemeinsam mit dem PVZ der TU Braunschweig?
In der Arzneimittelproduktion spielt die Interaktion von Partikeln mit Oberflächen eine entscheidende Rolle. Ob diese Partikel – sei es in Form von Wirkstoffen oder Granulaten – anhaften oder sich leicht ablösen, hängt von den Eigenschaften der beteiligten Oberflächen ab. In Abhängigkeit vom Produkt und Prozess können die konkreten Anforderungen bei der Herstellung und späteren Anwendung verschiedener Arzneimittel variieren: Eine starke Adhäsion kann beispielsweise bei der Formulierung stabiler Arzneiformen wichtig sein, während in anderen Fällen die Verhinderung von Anlagerungen entscheidend ist, um teure Reinigungsschritte zu vermeiden.
Wir sprechen heute mit Dr. Kristina Lachmann, Leiterin »Medizintechnik und pharmazeutische Systeme« am Fraunhofer IST und Dr. Jan Henrik Finke, Mitarbeiter am Fraunhofer IST und Leiter des am Zentrum für Pharmaverfahrenstechnik der TU Braunschweig ansässigen Bereichs »Pharma- und Biopartikeltechnik« des Instituts für Partikeltechnik iPAT über den Einsatz von Oberflächentechnologien in der Arzneimittelproduktion. An Beispielen geben sie uns Einblicke, wie sich Herstellungsprozesse durch innovative Beschichtungen optimieren lassen.
Liebe Kristina, lieber Jan, in welchen Bereichen des Produktionsprozesses von Arzneimitteln spielt Oberflächentechnik eine Rolle?
Kristina: Die Oberflächentechnik ist in fast allen Schritten der Arzneimittelherstellung wichtig – von der Synthese des Wirkstoffs über die Produktion der Arzneiform bis hin zur Verpackung und Anwendung durch die Patientinnen und Patienten. Das heißt: Die Interaktion pharmazeutischer Partikel mit Oberflächen, mit denen sie zwangsläufig während ihrer Synthese, Formulierung oder Anwendung in Kontakt kommen, müssen genau charakterisiert und durch Oberflächentechnik eingestellt werden. Wir arbeiten am Fraunhofer IST mit unseren Partnern an allen genannten Punkten der Prozesskette und bieten hier ganzheitlich Dienstleistungen an: von der Beratung über die Charakterisierung bis hin zur Schichtentwicklung. Ein Beispiel sind Tablettierprozesse: Im Bereich der Beschichtung von Tablettenstempeln verfügen wir über langjährige Erfahrungen und Kooperationen mit der pharmazeutischen Industrie.
Durch Oberflächentechnik lassen sich also die Adhäsionseigenschaften einstellen. Könnt ihr uns das am Beispiel der Tablettenstempel genauer erläutern?
Jan: Bei der Herstellung von Tabletten liegt der Wirkstoff zunächst meist als Pulver vor und muss z.B. mithilfe von Tablettenstempeln in Form gepresst werden. Dabei ist es besonders wichtig, dass es nicht zu einer unerwünschten Anhaftung des Tablettenpulvers am Stempel, dem sogenannten »Sticking«, kommt, denn neben höheren Reinigungskosten und Verlusten in der Produktausbeute führt dies – für den Patienten deutlich kritischer – u.U. dazu, dass die Dosierung nicht mehr stimmt. Gerade neue Wirkstoffe stellen oftmals eine besondere Herausforderung dar, wenn es darum geht, die richtige Dosierung im Endprodukt, d.h. in der Tablette einzustellen. Aktuell arbeitet ein Team des Fraunhofer IST daran, das wissenschaftliche Verständnis der Partikel-Oberflächen-Interaktion zu vertiefen. Ziel ist es, maßgeschneiderte Oberflächenbeschichtungen der Stempel anzubieten, mit denen sich die Interaktionskräfte gezielt steuern lassen, um so unmittelbar die Effizienz und Stabilität der Produktionsprozesse zu verbessern.
Neben der Steuerung der Adhäsion, die durch die physikochemischen Eigenschaften der Beschichtung gesteuert wird, sind in Abhängigkeit von Produkt und Prozess oft weitere Oberflächeneigenschaften, z.B. eine gewisse Verschleißbeständigkeit, gefordert, die mittels der am Fraunhofer IST verfügbaren Schichtsysteme, Technologien und Expertise ebenfalls gezielt eingestellt werden können.
Das Projekt zur Steuerung der Adhäsion im Tablettierprozess ist ein Beispiel für die Kooperation zwischen dem Fraunhofer IST und dem Zentrum für Pharmaverfahrenstechnik der TU Braunschweig – wer macht eigentlich was?
Kristina: Wir verfügen am Fraunhofer IST über eine langjährige Expertise in der Abscheidung von dünnen verschleißschutzfesten Beschichtungen und arbeiten bereits seit vielen Jahren mit verschiedenen Herstellern aus der pharmazeutischen Industrie zusammen. Die Kooperation mit dem PVZ ermöglicht es uns, unsere Beschichtungen in industrierelevanter Infrastruktur zu untersuchen und systematisch weiterzuentwickeln, um die beste Lösung für die jeweilige Fragestellung anbieten zu können. Am Fraunhofer IST konzentrieren wir uns auf die Beschichtungen, entwickeln bestehende Schichtsysteme weiter oder nutzen ganz neue Stoffsysteme. Dabei fokussieren wir uns auch auf die industrielle Umsetzbarkeit des Prozesses und die Charakterisierung der Schichteigenschaften – sowohl in Abhängigkeit von den Prozessbedingungen der Schichtabscheidung als auch in der Anwendung innerhalb der pharmazeutischen Prozesskette.
Jan: Am Zentrum für Pharmaverfahrenstechnik haben wir, wie es der Name direkt nahelegt, die Infrastruktur und das Wissen, um pharmazeutische Prozesse wie die Wirkstoff- und Arzneiformherstellung zu analysieren. Unsere Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer IST stellt eine perfekte Ergänzung dar, da wir beschichtete Oberflächen unter realen Produktionsbedingungen testen können. So entsteht ein enger Austausch zwischen Materialwissenschaft und Verfahrensentwicklung, der neue, praxisnahe Lösungen für die Industrie bietet.
Welche Ergebnisse gibt es bereits?
Jan: Unser Wissen über die Adhäsionssteuerung im Tablettierprozess lässt sich auf andere Prozesse übertragen. Aktuell arbeiten wir zusammen mit Industriepartnern auch an der Zerkleinerung von Wirkstoffpartikeln und Technologien zur Kapselfüllung. In einem weiteren Projekt zur Inhalationstherapie konnten wir zeigen, dass unsere Beschichtungen die Partikelanlagerung auf der Oberfläche der Inhalatoren um bis zu 80 % reduzieren. Das steigert die Anwendungssicherheit der Medizinprodukte sowie die effektive Nutzung der Wirkstoffdosen deutlich.
Was wünscht ihr euch für die erfolgreiche Weiterführung der Kooperation?
Kristina: Wir haben noch viele Ideen für zukünftige Projekte oder Themen, die wir erforschen und mithilfe von Oberflächentechnik verbessern wollen. Aus strategischer Perspektive ist es uns wichtig, die Erkenntnisse, die wir in der Grundlagenforschung erworben haben, in relevante Lösungen für die Anwendung zu transferieren. Die TU Braunschweig ist dabei ein wichtiger strategischer Partner.
Bei den bisher genannten Prozessschritten werden vor allem Werkzeuge aus der Prozesskette modifiziert. Genauso gut lassen sich die Beschichtungen aber auch direkt auf unterschiedlichsten Medizinprodukten z.B. auf den erwähnten Inhalatoren aus Kunststoffen anwenden. Auch hier müssen die Wechselwirkungen zwischen Arzneimittel und der Oberfläche so aufeinander abgestimmt sein, dass Verluste bei der Anwendung durch den Patienten vermieden werden.
Ein weiteres Forschungsfeld ist die Untersuchung der Wechselwirkungen mit der Verpackung oder auch eine Modifizierung der pharmazeutischen Partikel selbst. So untersuchen wir beispielsweise am Fraunhofer IST in dem aktuellen vom Land Niedersachsen geförderten Verbundprojekt »RNApp« die Wechselwirkungen von mRNA-haltigen Lipid-Nanopartikeln mit der Verpackung. Ziel ist es, diese zu verringern, um die Lagerstabilität zu erhöhen. Das Projekt gibt uns die Möglichkeit, die Kooperation mit der TU Braunschweig und darüber hinaus auszubauen und ein weiteres Themenfeld zu erschließen, das die Expertise des PVZ bestens ergänzt.
Jan: Ein Thema, über das bisher noch gar nicht gesprochen wurde, ist der 3D-Druck von Arzneiformen. Hier wollen wir die Expertise des Instituts für Partikeltechnik iPAT der TU Braunschweig im Bereich Herstellung und Charakterisierung wirkstoffhaltiger Intermediate, hier Filamente, sowie der Freisetzungssteuerung in Arzneiformen mit den Kompetenzen des Fraunhofer IST im Bereich der Haftungsverbesserung bei Materialkombinationen sowie der Einbringung von Funktionsschichten zur Freisetzungssteuerung kombinieren. Das ist eine weitere spannende Perspektive für zukünftige Projekte.
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